"Ausblicke..."


 „Der November ist der Totenmonat.“
Toll, das ist ja eine freudige Nachricht am frühen Sonntagmorgen. In Verbindung mit den unglaublich traurigen Liedern und frustrierenden Texten über den Tod im Allgemeinen und im Besonderen ist die Stimmung in unserer kleinen Dorfkirche eher mäßig euphorisch. Die Gemeinde schaut dem Anlass entsprechend betroffen in die Runde und die der Jahreszeit angepassten schwarzen Mäntel und Jacken vervollständigen das depressive Gesamtbild vortrefflich. Ich bin zurück in Deutschland.

Doch heute lässt mich die Szenerie des Sonntagsgottesdienstes seltsam unbeeindruckt, warum? Früher war ich ein Teil dieser Masse, was ist passiert? Ich fliege. Meine Gedanken und mein Herz segeln durch den hohen Raum, ich habe nichts dagegen. Vorbei an dem mahnenden Finger des heiligen XY, an den abgehackten Händen und Füßen Jesu am rechten Seitenaltar, schaurig sind die Schnittflächen mit Blut verschmiert. Also ehrlich, schön ist anders. Ich halte kurz inne, als ich in der vorderen Kuppel an Maria und Jesus vorbeikomme. Die Worte des Pfarrers bei seiner Predigt berühren mich nicht. Ich höre einige Wortfetzen, ohne sie wahrzunehmen.

„Der Totenmonat“
Das Wort macht sich in meinem Kopf breit. Ohne darüber nachzudenken, formen sich Bilder dazu. Und die Gedanken bringen Gefühle mit sich, das kenne ich ja inzwischen.
Ich sehe das Meer in seiner ganzen Schönheit ausgebreitet vor mir liegen, der laue Wind spielt mit meinen Haaren. Ich spüre die sandfarbene schmale Straße unter meinen Füßen, Zypressengesäumt steigt sie langsam hinauf zur Kuppe des kleinen Hügels am oberen Ende unseres mallorquinischen Dorfes. Die Schatten werden bereits lang, das Jahr neigt sich dem Ende entgegen. Ich verbringe einige Tage auf der Insel, alleine. 
Ich mache einen Besuch, den ich schon lange vorhatte zu tun. 
Ich gehe zur „Stadt der Toten“, denn ja, ich bin gerne auf Friedhöfen. Ich mag den sichtbaren Kreislauf des Lebens, hier trifft am Ende alles zusammen.


Andächtig schlendere ich die Reihen der großen Mausoleen entlang, mustere die alten, verwitterten Inschriften, bewundere die verblichenen Schwarz-Weiß-Fotografien aus dem letzten Jahrhundert. Ruhig, besinnlich, die tiefstehende Abendsonne erwärmt die Luft und taucht alles um mich herum in honigfarbenes Licht. Und somit auch mein Herz. Ich biege um die Ecke, um in die nächste kleine Totensiedlung zu spazieren, da ist es plötzlich mit der Ruhe vorbei. Ich stehe mitten in einem Haufen lustig schnatternder Frauen, alt und jung, bunt gemischt, aber alle äußerst fröhlich. Und laut. Nix mit Totenruhe.

Ich muss grinsen. Ein schönes Bild. Keine im Schmerz verharrenden Leute, die in der Trauer um ihre Lieben gefangen sind, sich quälen, mit dem Schicksal hadern. Niemand ist schwarz gekleidet. Die Frauen sitzen auf den Bänken, gießen die Blumen, kümmern sich liebevoll um ihre Angehörigen. Mit Freude. Schon oft ist mir die Einstellung der Mallorquiner zum Sterben und zum Tod aufgefallen und für mich persönlich ist diese Variante wesentlich menschlicher: 

Die Verstorbenen dürfen dableiben. In den Gedanken, im täglichen Gespräch, ihre Hinterbliebenen tragen sie weiterhin im Herzen, sie müssen nicht verbannt werden in irgendwelche Schubladen. Sie dürfen immer noch am Leben teilnehmen, es gibt schlicht und ergreifend keinen Grund, sie gehen zu lassen.
Warum auch? Es muss keinen Abschied geben.

Ja, Abschiede schmerzen furchtbar. Egal in welcher Form. Wir werden verlassen, wir lassen geliebte Menschen zurück. Wie können wir das verarbeiten? Ich selbst bin echt schlecht im „Verlassenwerden“, damit komme ich kaum klar. Denn plötzlich ist meine Welt, mein Alltag, meine Heimat aus den Fugen, ohne dass ich etwas dagegen tun könnte. Daran ändern auch meine Wut, meine Tränen, die Verzweiflung und die Eifersucht nichts. All meine schlimmen Gefühle bringen keine Wendung der Situation. Sie bringen nur meine eigene Qual mit sich. 

Wie kann ich meine Gefühle ändern?
Durch meine Gedanken.
Klingt so einfach. Vielleicht ist es das tatsächlich?

Der entscheidende Vorteil der Gedanken ist doch folgender:
Es sind meine.
Also behalte ich, wen ich möchte.
Liebe ich, wen immer ich will.
Trage ich in meinem Herzen alle, die mir wichtig sind.
Ganz egal, wo sie sich gerade aufhalten.
Ich kann Zwiesprache halten, an sie denken – oder sie in Frieden lassen, ganz wie es mir beliebt. Jeden Tag. Welch eine Freiheit!
Nein, es muss keine Abschiede geben.
Das ist allein meine Entscheidung.

Ich erzählte am folgenden Tag unseren spanischen Freunden von meinem Ausflug zum Friedhof. „Hast du meinen Papa gesehen?“ kam die neugierige Frage. „Nein, ich habe ihn nicht getroffen“, steige ich auf den kleinen Scherz ein und wir müssen lachen. Der Papa ist schon vor vielen Jahren verstorben. „Wir hatten damals eine Schwierigkeit“, erzählt Juan weiter: „Der Papa wollte gerne ein Grab mit Blick aufs Meer. Die Plätze waren aber schon alle vergeben, doch am Ende haben wir noch einen Platz ergattert. Nun liegt er da oben auf dem Berg mit Blick aufs Meer. So ist er zufrieden.“

Ich liebe diese Geschichte. Ist das nicht ein wunderbarer Abschluss für ein erfülltes Leben? Ist es nicht auch für uns alle erleichternd, wenn wir unsere Lieben in guten Händen wissen? Sollten wir uns nicht für sie freuen, und darauf vertrauen, dass es ihnen gut geht, auch wenn sie nicht mehr an unserer Seite sind? Ist es nicht egoistisch von uns, sie weiterhin an uns ketten zu wollen, indem wir in unserer Trauer verharren?  

„Der November ist der Totenmonat“
Ja, doch es sollte kein Monat der Trauer sein, im Gegenteil.
Lasst uns das liebevolle Gedenken, die Dankbarkeit für schöne und erfüllte Zeiten, die gemeinsamen Stunden und die Zuversicht in den Vordergrund stellen, und dass wir alle getragen werden, im Leben wie auch im Tod.
Daran glaube ich und habe keinen Grund zum Zweifeln.

Und vielleicht habe ich auch einmal einen Platz mit Blick auf das Meer. 
Dann wünsche ich mir, dass ihr euch für mich freut, von Herzen.
💖